0. Einleitung

“Die englische Wissenschaft kennt einen Gelehrtentypus, der uns Deutschen im allgemeinen fremd ist.“ [1]

Mit diesem Zitat beginnt die 1910 erschienene deutsche Übersetzung des Buches Hereditary Genius, das zu den wichtigsten Werken Galtons zählt. Vollständig lautet das Zitat: „Die englische Wissenschaft kennt einen Gelehrtentypus, der uns Deutschen im allgemeinen fremd ist. Es sind dies wohlhabende Männer, die Sorgen um die Lebensnotdurft nie kannten und einen großen Teil ihrer Jugendzeit [dem] Sport und Reisen widmeten, um erst im Mannesalter sich ganz der Wissenschaft zuzuwenden. Die günstige Lebensstellung übte auf viele von ihnen nie einen lähmenden Einfluß, befähigte sie aber nach freier Wahl die Welt mit offenem Blick zu durchforschen, um dann vielfach in originellerer Weise, als dies bei systematisch erzogenen Gelehrten der Fall ist, schwierige Probleme kühn in Angriff zu nehmen. Zu diesem Gelehrtentypus gehörten auch die beiden Enkel des berühmten E r a s m u s  D a r w i n, der große C h a r l e s  D a r w i n und sein ihm in vielem kongenialer Vetter F r a n c i s  G a l t o n.“[2]

Francis Galton, der Wissenschaftler eben jenes angesprochenen neuen englischen Typs, der den Deutschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eben so fremd war, wie er uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts fremd ist, steht im Mittelpunkt dieser Arbeit. Die angesprochene „originellere Weise“, mit der Francis Galton „schwierige Probleme kühn in Angriff nahm“ macht ihn zu einem interessanten Objekt einer historisch-didaktischen Analyse. Neben dem Galton-Brett und der Geschichte seiner Erfindung sind es vor allem die zahlreichen teilweise kurios anmutenden Geschichten, die eine Auseinandersetzung mit dem Leben Francis Galtons zu Tage fördert. Sie machen ihn sowohl zu einem lohnenswerten Objekt dieser Analyse, als auch zu einem lohnenswerten Unterrichtsgegenstand.

Diese Arbeit richtet sich an interessierte Studenten, Referendare und Lehrer der Mathematik, die mit dem Galton-Brett arbeiten oder es im Unterricht einsetzen wollen. Es sollen zum einen die historischen Hintergründe der Entwicklung des Galton-Brettes erörtert werden. Zum anderen soll aber auch gezeigt werden, daß das Leben und das Werk des Francis Galton zahlreiche weitere Aspekte beinhaltet, die sowohl den historisch interessierten Mathematiker anregen als auch als Unterrichtsgegenstand dienen können. Zu nennen sind hier zum einen die neuen mathematisch-statistischen Methoden, die auf einem neuartigen Einsatz der Normalverteilung beruhten, und die von Galton begründeten Konzepte der Regression und der Korrelation, deren historische Entwicklung in dieser Arbeit aufgezeigt werden. Zum anderen sind die zahlreichen Entdeckungen, die Galton mit Hilfe der mathematischen Statistik auf anderen Forschungsgebieten machte, zu nennen. So ist Galton z.B. auf dem Gebiet der Meteorologie der Entdecker der Hochdruckgebiete. Auf ihn geht die Einführung der ersten täglichen Wetterkarte in der Zeitung The Times zurück. Die Kriminalistik verdankt ihm den Nachweis, daß Fingerabdrücke zur eindeutigen Identifikation eines Menschen dienen können, eines ihrer wichtigsten Beweisverfahren. Für Zahlreiche Wissenschaften, z.B. die Psychologie, legten Galtons Arbeiten den Grundstein für die Einführung mathematisch - statistischer Vorgehensweisen. Galton lieferte außerdem zahlreiche Anstöße auf dem Gebiet der Vererbungslehre. Er wurde zum Entdecker des bei der Vererbung auftretenden Phänomens der Regression. So wurde er zum Begründer der Eugenik, also der Lehre von der Verbesserung des menschlichen Erbgutes. Um diese unvollständige Aufzählung zu beenden, sei eine der bekanntesten Arbeiten von Francis Galton erwähnt: 1872 hatte er versucht, auf statistischem Wege die Nutzlosigkeit des Betens zu beweisen.

Aus mathematischer Sicht relevant sind die aufgeführten Entdeckungen des Francis Galton vor allem deshalb, weil sein Vorgehen beinahe immer ein mathematisch-statistisches war. Viele seiner Arbeiten, insbesondere seine frühen Arbeiten, sind aufgrund ihres niedrigen mathematischen Anspruchsniveaus außerdem durchaus zum Einsatz in der Schule geeignet.

Angelehnt an den vorgegebenen Titel dieser Arbeit gliedert diese sich in zwei Kapitel. Das erste Kapitel umfaßt die historische, das zweite Kapitel die didaktische Analyse des Lebens des Francis Galtons und der Hintergründe der Erfindung des Galton-Brettes.

Das erste Kapitel wiederum gliedert sich in zwei Unterkapitel 1.1 und 1.2. Diese Gliederung entspricht der Zweiteilung, die im Leben des Francis Galton zu erkennen ist. Bis ungefähr zum 40. Lebensjahr galt der Interessensschwerpunkt des Francis Galton der Geographie und dem Reisen. Galton war das Kind reicher Eltern, die für ihn ein Leben als Mediziner vorgesehen hatten. Für diese vorbestimmte Profession brachte er keine Begeisterung auf. Einer offenen Auseinandersetzung ging er jedoch aus dem Weg. Die Abschnitte 1.1.1 bis 1.1.4 versuchen nachzuzeichnen, wie Francis Galton innerhalb der von seinen Eltern gesteckten Grenzen seine eigenen Interessen zu verfolgen versuchte. So beschäftigte er sich während des Studiums intensiv mit der Mathematik, was ihm später die Auseinandersetzung  mit dem statistischen Forschungsstand seiner Zeit vereinfachte. Außerdem gelang ihm mit Hilfe einer List, von seinem Vater Geld für seine erste große Reise zu erhalten. Erst mit dem Tod des Vaters, der in Abschnitt 1.1.5 thematisiert wird, wurde Galton zu dem Gentlemen Scientist, also dem wirtschaftlich unabhängigen Wissenschaftler des neuen Typs, der seine Interessensschwerpunkte frei wählen konnte. Seine Reiseleidenschaft führte dazu, daß er sich zunächst der Geographie zuwandte. Vom Entdeckergeist des viktorianischen Zeitalters angesteckt, unternahm er eine Forschungsreise ins tropische Südafrika (Abschnitt 1.1.6). Über die Geographie wurde er dann auf die Meteorologie aufmerksam (Abschnitte 1.1.7 bis 1.1.8). Mit dem Problem konfrontiert, eine große Menge meteorologischer Daten in Diagrammen und Karten darzustellen, entdeckte Galton die Vorzüge der darstellenden Statistik. Diese Erkenntnis wurde zum Ausgangspunkt für die intensive Beschäftigung mit der mathematischen Statistik in der zweiten Hälfte seines Lebens.

In Unterkapitel 1.2 wird das mathematische Wirken des Francis Galton verfolgt. Hauptmotiv für seine intensive Auseinandersetzung mit der mathematischen Statistik wurde die Leidenschaft für Fragen der Vererbung, die die Geographie als Interessensschwerpunkt verdrängte. Ausgangspunkt für diesen Interessenwandel war das 1859 von seinem Vetter Charles Darwin veröffentlichte Buch Origin of species[3]. 1865 veröffentlichte Galton einen Artikel mit dem Titel Hereditary Talent[4] (Abschnitt 1.2.1). In diesem Artikel formulierte er die grundsätzlichen Ideen, die zum Antrieb für seine weitere Forschertätigkeit bis zum Ende seines Leben werden sollten. Seine zukünftige Hauptmotivation bestand darin, zu beweisen, daß die Vererbung körperlicher und geistiger Fähigkeiten eine wissenschaftliche Tatsache ist, und daß es möglich ist, durch gezielte Eingriffe eine genetisch bessere Gesellschaft zu schaffen. Sein Beweisverfahren war sowohl in dem Artikel 1865 als auch in den folgenden Jahrzehnten ein statistisches. Seine immer tiefergehende Beschäftigung mit den statistischen Ideen seiner Zeit, insbesondere mit den Ergebnissen Quetelets (Abschnitt 1.2.2.2) diente einzig und allein dem Ziel, seine Ideen der Vererbungslehre zu beweisen. Die Abschnitte 1.2.1 und 1.2.2 zeichnen die Weiterentwicklung der mathematischen Ideen Francis Galtons und die Einflüsse, unter denen diese Weiterentwicklung durch die Statistiker seiner Zeit stand, nach. In Abschnitt 1.2.3 wird dann aufgezeigt, warum er das Galton-Brett erfand, wie er es einsetzte und welche Fortschritte er mit Hilfe dieser Erfindung machte. Das Galton-Brett lieferte ihm den Schlüssel zur Kombination seiner Ideen der Vererbung und der von Quetelet entdeckten Tatsache, daß in Meßdaten menschlicher Eigenschaften die Normalverteilung auftritt. Die Erkenntnisse, die Galton mit Hilfe des Brettes gewann, führten ihn dann zur Entdeckung des allgemeinen Konzeptes der Korrelation, von der er in der Vererbungslehre zuvor einen Spezialfall – die Regression – entdeckt hatte.

Der zweite Teil der Arbeit, die didaktische Analyse also, gliedert sich ebenfalls in zwei Teile. Zunächst soll in Unterkapitel 2.1 der Frage nachgegangen werden, wie die Arbeiten des Francis Galton eine Rolle im Unterricht spielen können. Es wird dabei zunächst eine theoretische Betrachtung der Frage, was Geschichte und die Betrachtung der historischen Hintergründe mathematischer Entdeckungen im Mathematikunterricht leisten können, angestellt (Abschnitt 2.1.1). Dann wird versucht, an Beispielen aufzuzeigen, wie einzelne Arbeiten des Francis Galton im fächerübergreifenden Unterricht genutzt werden können. Außerdem wird die Möglichkeit der Heranziehung statistischer Untersuchungen des Engländers zur Schulung des kompetenten und verantwortlichen Umgangs mit Statistiken erörtert (Abschnitt 2.1.2). Im zweiten Teil der didaktischen Analyse (Abschnitt 2.2) stehen die Einsatzmöglichkeiten des Galton-Brettes im Mittelpunkt der Betrachtung. An den Ideen und Konzepten des entdeckenden Lernens und des Spiralprinzips, die in Abschnitt 2.2.1 erörtert werden, orientiert, sollen die Abschnitte 2.2.2 bis 2.2.4 punktuelle Einsatzmöglichkeiten des Brettes in der Unterstufe aufzeigen. Der Abschnitt 2.2.5 widmet sich unter der gleichen Fragestellung der Eignung des Brettes für die Oberstufe. Dabei werden die Möglichkeiten des Eigenbaus, des Testes selbstgebauter Bretter und die Simulation solcher Bretter erörtert.

Im Anhang der Arbeit wird die angesprochene Untersuchung über die Nützlichkeit des Betens vorgestellt. Diese Untersuchung paßt aufgrund ihrer Thematik und der verwendeten statistischen Methoden nicht in den zweiten Teil des ersten Kapitels, in den sie chronologisch einzuordnen ist. Da sie aufgrund ihrer Kuriosität aber ein gutes Beispiel für den Einsatz im Unterricht ist, um dort den Umgang mit Statistiken zu schulen, wird sie als Anhang angefügt (Anhang 1). Im Anhang findet sich außerdem eine Erläuterung über häufig fehlerhafte Darstellungen von Galton-Brettern in der Literatur (Anhang 2), die z.B. bei der Auswahl einer Darstellung von Galton-Brettern für den Unterricht zu beachten ist. Da diese Arbeit in Bonn geschrieben wurde, schließt sie mit einem Zitat, das belegt, daß Galton auf seiner ersten großen Reise auch die Umgebung Bonns besuchte (Anhang 4).


[1] Aus dem Vorwort von Galton, Francis : Genie und Vererbung, Leipzig 1910, S. III.
[2] Aus dem Vorwort von Galton, Francis : Genie und Vererbung, Leipzig 1910, S. III.
[3] Darwin, Charles: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the 
Struggle for Life, London, 1859.
[4] Galton, Francis : Hereditary Talent and Character, in: MacMillan's Magazine XII Juni und August 1865, S. 157-166, 318-327.


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